Viele Eltern stehen nach der Diagnose einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Rechenschwäche (Dyskalkulie) vor der Frage: „Und was passiert jetzt?“
Oft herrscht Unsicherheit darüber, welche Unterstützung Kinder in der Schule wirklich bekommen können – und nicht wenige glauben, dass der Nachteilsausgleich in BW nur bis zur 4. Klasse gilt. Das ist nicht korrekt. Weitere Falschannahmen und Mythen findest du in meinem Blogbeitrag. Ein individueller Nachteilsausgleich ist in allen Klassenstufen und sogar in den Abschlussprüfungen in Baden-Württemberg möglich.

Hinweis: Auch, wenn mein Schwerpunkt auf den Nachteilsausgleich in BW liegt, sind die meisten Tipps auch für andere Bundesländer anwendbar.


In diesem Artikel zeige ich dir, was der Nachteilsausgleich eigentlich bedeutet, welche rechtlichen Grundlagen gelten und welche praktischen Tipps du sofort umsetzen kannst. Dabei fließen meine eigenen Erfahrungen aus der Arbeit mit und an Schulen ein, sodass du nicht nur Theorie, sondern konkrete Hilfestellungen bekommst.

Übersicht der schulrechtlichen Regelungen in den Bundesländern

Eine sehr gute Übersicht über die LRS-Erlasse in den jeweiligen Bundesländern findet man bei Legakids.
Die Regelungen für Schwierigkeiten beim Rechnen lernen sind teilweise auch aufgeführt. Wenn du noch stärker in die Praxis eintauchen möchtest, dann schau doch gerne bei unserem Lerntherapeuten-Netzwerk vorbei, hier haben wir für einige Bundesländer konkrete Tipps mit Praxisbeispielen erstellt.

Was ist ein Nachteilsausgleich

„Ein Nachteilsausgleich ist ein juristisch definierter, für den Einzelfall zu klärender, pädagogisch von der Schule zu verantwortender Handlungsspielraum“ findet man auf der Seite vom ZSL (Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung). Konkret bedeutet das Folgendes:

Ziel des Nachteilausgleichs ist es, den Schüler mit seinen Schwierigkeiten beim Lesen/Schreiben und Rechnen in die Lage zu versetzen, dass er trotz seiner Beeinträchtigung den Anforderungen in der Schule entsprechen kann. Wichtig, es ist ein pädagogisches Instrument und die Schulen können diesen im Rahmen ihres Handlungsspielraums individuell umsetzen. Er ist immer eine Einzelfallentscheidung. Das heißt jeder Nachteilsausgleich kann und sollte ganz unterschiedlich gestaltet sein, je nachdem, welche Herausforderungen der Schüler hat.

In der Handreichung Nachteilsausgleich vom Schulamt Backnang wird nochmal ganz deutlich gemacht, wie wichtig ein pädagogischer Spielraum ist und dass ein Nachteilsausgleich erst dann zur „Anwendung kommt, wenn der pädagogische Spielraum und individuelle Fördermaßnahmen umfänglich ausgeschöpft wurden.“

Wo ist der Nachteilsausgleich für BW geregelt?

In Baden-Württemberg gilt die Verwaltungsvorschrift „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen“. Diese Verwaltungsvorschrift ist aus dem Jahr 2008 und bis heute noch gültig. Dort heißt es:

Der Nachteilsausgleich für Schüler mit besonderem Förderbedarf oder für behinderte Schüler lässt daher das Anforderungsprofil unberührt und bezieht sich auf Hilfen, mit denen die Schüler in die Lage versetzt werden, diesem zu entsprechen. Verwaltungsvorschrift BW

Was bedeutet das konkret?

  • Ein Nachteilsausgleich in BW kann in allen Klassenstufen beantragt werden.
  • Er gilt auch in Abschlussklassen und Prüfungen.
  • Wichtig: Der Nachteilsausgleich wird nicht im Zeugnis vermerkt.
  • Wenn jedoch bestimmte Leistungen (z. B. die Rechtschreibung) zurückhaltend bewertet oder nicht gewertet werden, erscheint ein entsprechender Hinweis im Zeugnis.

Antrag auf Nachteilausgleich – so gehst du Schritt für Schritt vor

Viele Eltern fragen sich: An wen wende ich mich – und wie stelle ich den Antrag auf Nachteilausgleich? Muss dieser Antrag schriftlich gestellt werden? Folgende Tipps helfen dir Schritt für Schritt im Dschungel Nachteilsausgleich weiter.

An wende ich mich?

Die erste Ansprechperson ist der Regel immer die Klassenlehrkraft. Der weitere Ablauf ist je nach Bundesland ganz unterschiedlich.

Für den Nachteilsausgleich in BW kannst du dich an eine Beratungslehrkraft wenden, die es in der Regel für jede Schule gibt Hinweis: Beratungslehrkräfte sind oft für mehrere Schulen zuständig, daher kann die Beratungslehrerin auch an einer Schule tätig sein, aber für deine Schule zuständig sein.

Alternativ kannst du dich an die schulpsychologische Beratungsstelle wenden oder auch an die ASKO (Arbeitsstelle Kooperation). Hab keine Angst, diese Möglichkeiten aktiv zu nutzen. Die Gespräche sind sehr wertschätzend und gemeinsam wird dann überlegt, was deinem Kind helfen könnte.

Was gehört in den Antrag?

Der Antrag kann formlos gestellt werden, vorab empfiehlt es sich das Gespräch zu suchen. Wichtig ist, dass du im Gespräch oder in einem schriftlichen Antrag folgendes beschreibst:

  • welche Herausforderungen hat dein Kind
  • wie äußern sich diese im Schulalltag
  • welche Maßnahmen könnten hilfreich sein
  • falls vorhanden: eine Stellungnahme vom Diagnostiker oder Lerntherapeuten

Alles weitere wird im Gespräch mit der Schule abgestimmt – der Antrag ist also immer ein Gesprächsöffner und keine starre Forderungsliste.

5 Tipps für einen wirksamen Nachteilsausgleich

Ein Antrag ist nur der erste Schritt. Entscheidend ist, dass der Nachteilsausgleich im Alltag auch wirklich passt und wirkt und regelmäßig überprüft wird.
Hier meine wichtigsten Tipps aus der Praxis:

  1. Stelle den Antrag aktiv – Einige Eltern warten zu lange. Sprich zu Beginn des Schuljahres mit der Klassenlehrkraft und bring das Thema ins Gespräch, insbesondere bei einem Schulwechsel
  2. Nutze die Expertise der Diagnostik-Stelle. Falls es schon ein Gutachten gibt, stehen manchmal in der Stellungnahme Hinweise und Tipps zur konkreten Umsetzung des Nachteilsausgleichs. Diese können im Gespräch mit berücksichtigt werden und helfen den Nachteilsausgleich zu gestalten
  3. Immer individuell und damit wirksam: Wichtig ist, dass der Nachteilsausgleich für dein Kind passend ist. Um ein Beispiel zu nennen: Mehr Zeit ist nicht für jedes Kind hilfreich. Manche fühlen sich dadurch sogar stärker belastet. Achte darauf, dass die Maßnahmen wirklich zu deinem Kind passen.
  4. Schriftliche Dokumentation: Es ist hilfreich, wenn der Nachteilsausgleich schriftlich dokumentiert wird. Beschlossen wird der Nachteilsausgleich in einer Klassenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters und in der Regel auch schriftlich dokumentiert. Frage nach, ob du eine Kopie oder eine Zusammenfassung bekommen kannst. So hast du auch bei einem Lehrerwechsel alle Infos zur Hand. Als Beispiel. So kann ein Konferenzbeschluss aussehen (Vordruck vom Schulamt Tübingen (Konferenzbeschluss zum Nachteilsausgleich
  5. Nachteilsausgleich und Förderung kombinieren: Ein Nachteilsausgleich nimmt erstmal den Druck heraus und entlastet den Schüler für den Moment. Um aber Fortschritte in seiner persönlichen Entwicklung zu machen, ist eine Förderung wichtig (innerschulisch oder wenn das nicht ausrecht, ist eine integrative Lerntherapie zu empfehlen
Tipps Nachteilsausgleich in BW
Tipps für den Nachteilsausgleich

Wie kann ein Nachteilsausgleich aussehen

Der Nachteilsausgleich ist immer individuell, wie auch die Verwaltungsvorschrift beschreibt.

„Daneben sind auch besondere, nur auf einzelne Schüler bezogene Maßnahmen des Nachteilsausgleichs möglich, insbesondere durch eine Anpassung der Arbeitszeit oder durch die Nutzung von besonderen technischen oder didaktisch- methodischen Hilfen“

Hier stelle ich dir gerne ein paar Möglichkeiten für den Nachteilsausgleich in BW und in anderen Bundesländern vor:

Nutzung von (technischen) Hilfen

  • PC/Laptop als Schreibhilfe, um längere Texte auf dem PC zu schreiben
  • Lesehilfen: Lesepfeil, Leseschablone (mehr Infos hier)
  • Angepasste Arbeitsblätter, ggf. größer kopiert, spezielle Schriften, größere Skizzen
  • Lesestift mit Sprachausgabe, um sich Texte vorlesen zu lassen
  • Wörterbücher
  • Bei einer Dyskalkulie: Zusätzliches Anschauungsmaterial: Einmaleins Tabellen, Dienes Material, Hundertertafel
  • Taschenrechner

Didaktisch methodische Hilfen

  • Mehr Bearbeitungszeit, sinnvoll ist ein ruhiger separater Raum, damit sich der Schüler konzentrieren kann
  • Lückentext bei Diktaten (anstelle des ganzen Diktats)
  • Differenzierte Hausaufgaben
  • Verwendung von Merkheften, Regelheften, Strategiekärtchen (erarbeitet mit der Lehrkraft)
  • Schülerpatenschaft: Sitznachbar, der unterstützen kann (mit welchem der Schüler gut klarkommt)
  • Bereitstellen von zusätzlichen Lern- und Anschauungsmitteln
  • Größere Kästchen für geometrische Arbeiten oder Tabellen, Skizzen und Zwischenrechnungen
  • Bewerten von Teilschritten/Teilergebnissen
  • Besprechen der Aufgabenstellungen vor der Arbeit, ggf. Darstellung der Schwierigkeitsgrade, leichte Aufgaben zuerst
  • Anstelle einer Klassenarbeit darf der Schüler eine Präsentation vor der Klasse halten
  • Stärkere Gewichtung von mündlichen Leistungen: nur sinnvoll, wenn der Schüler sehr gerne mündlich mitarbeitet (für die ruhigeren Schüler ist dieser Nachteilausgleich weniger geeignet

Weiterlesen in meinem Blog: Nachteilsausgleich Dyskalkulie & Englisch

Suchst du ganz konkrete Tipps für den Nachteilsausgleich Dyskalkulie oder im Fach Englisch, dann schau gerne hier rein (einfach aufs Bild klicken).

Individueller Nachteilsausgleich zusammenfassende Tipps

Ich persönlich erlebe viele engagierte Lehrkräfte die sich in die Situation dieser Kinder hineinversetzen können. Manchmal sind es die kleinen Maßnahmen, die den Schüler spüren lassen, hier bin ich wichtig, hier kann ich „ICH“ sein, meine Persönlichkeit wird wahrgenommen. Denn….

„Die Nachteilsausgleiche sind genauso kreativ und individuell wie die Schüler selbst“

… findet man z.B. auf einer Seite des Schulamtes Tübingen in Baden-Württemberg und dem stimme ich voll und ganz zu.

Der Nachteilsausgleich ist in BW eine wichtige Unterstützung für Kinder mit LRS oder Rechenschwäche – und zwar in allen Klassenstufen und Prüfungen.

👉 Wichtig für Eltern:

  • stelle den Antrag (suche vorab das Gespräch zur Klassenlehrkraft)
  • suche gemeinsam mit der Lehrkraft nach individuellen Möglichkeiten, wie dein Kind mit LRS und Rechenschwäche bestmöglich unterstützt werden kann
  • lass dir eine Kopie vom schriftlichen dokumentieren Nachteilsausgleich zukommen

Mit einem gut vorbereiteten Antrag, klaren Absprachen und einem offenen Austausch mit der Schule können Kinder die Unterstützung bekommen, die sie brauchen – damit Lernen wieder gelingt.

Möchtest du regelmäßig Tipps zum Thema leichter Lernen, Nachteilsausgleich in BW und in anderen Bundesländern und individuelle Förderung, dann spring in meinen Newsletter.

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Quellen

http://www.legasthenie-lvl-bw.de/
https://www.legakids.net/eltern-lehrer/hilfe-vor-ort/lrs-erlasse-der-laender/
http://www.landesrecht-bw.de/
Maßnahmen des Nachteilsausgleichs allgemein.pdf (schulamt-bw.de)