Welche Regelungen gibt es eigentlich in Hessen, wenn es um einen Nachteilsausgleich bei einer LRS oder Rechenschwäche geht? Hessen ist einwohnertechnisch auf Platz 5 der Bundesländer in Deutschland. Daher lohnt es sich einen genaueren Blick auf die Regelungen in diesem Bundesland zu nehmen.

In diesem Gastbeitrag zeigt Pia Meyer, Lerntherapeutin und Realschullehrerin auf, wie der Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder Rechenschwäche geregelt ist.

Pia Meyer, Lerntherapeutin und Reallschullehrerin

Nachteilsausgleich in Hessen auf einen Blick

In Hessen gibt es klare Regelungen zum Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen oder besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen. Diese Regelungen sollen sicherstellen, dass alle Schüler faire Chancen auf eine erfolgreiche Bildung haben.

Maßnahmen können z.B. zusätzliche Zeit bei Prüfungen, Nutzung technischer Hilfsmittel oder angepasste Aufgabenstellungen umfassen.
Schulen sind verpflichtet, individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen und den betroffenen Schülern durch spezifische Anpassungen zu helfen.

Was ist ein Nachteilsausgleich und welches Ziel verfolgt er?

„Die Anwendung und Nutzung von Formen des Nachteilsausgleichs sind wesentliche Bestandteile eines barrierefreien Unterrichts während der gesamten Schullaufbahn. Nachteilsausgleiche dienen dazu, Einschränkungen durch Beeinträchtigungen oder Behinderungen auszugleichen oder zu verringern. Sie sollen ermöglichen, individuelle Leistungen mit anderen zu vergleichen.
(…)
Mit Hilfe des Nachteilsausgleichs sollen Kinder und Jugendliche mit besonderen Lernbedürfnissen ihre mögliche Leistungsfähigkeit ausschöpfen. Es gilt, Bedingungen zu finden, unter denen Kinder und Jugendliche ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können, ohne dass die inhaltlichen Leistungsanforderungen grundlegend verändert werden. Eine Leistung, die mit Maßnahmen eines Nachteilsausgleichs erbracht worden ist, stellt eine gleichwertige, zielgleiche Leistung dar.“

Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011, S. 10

Aus diesem Beschluss wird deutlich, dass die individuelle Förderung eines Kindes verpflichtende Aufgabe der Schule ist. Der Nachteilsausgleich ist demnach keine allgemeine Vergünstigung, die man Kindern gewährt, sondern immer eine individuelle Unterstützung, damit sie auch mit ihrer Beeinträchtigung bzw. Teilleistungsstörung die Chance auf einen
begabungsgerechten Bildungsweg haben.

Hat mein Kind ein Anrecht auf einen Nachteilsausgleich?

Prinzipiell sollte ein Nachteilsausgleich für alle Kinder und Jugendlichen gewährt werden, die

  • eine Behinderung oder Teilleistungsstörung haben,
  • besondere Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen [1]
  • eine vorübergehende Beeinträchtigung (bspw. Armbruch) oder
  • eine chronische Erkrankung haben,

solange sie lernzielgleich unterrichtet werden (schließt bspw. Kinder aus, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen haben).

[1] Der Nachteilsausgleich für besondere Schwierigkeiten beim Rechnen wird nur in der Grundschule gewährt

Rechtliche Grundlagen – Wo kann ich mich informieren?

Im Paragraf 7 der Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV) werden die rechtlichen Grundlagen für allgemeinbildende Schulen beschrieben.

Ab Paragraf 44 wird besonders auf Kinder mit Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen eingegangen. Die in der VOGSV erwähnten „besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen“ sind nicht zu verwechseln mit fachärztlich diagnostizierten Teilleistungsstörungen wie „Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ – besser bekannt unter Lese-Rechtschreib-Störung/Legasthenie und Dyskalkulie.
Schüler und Schülerinnen der Oberstufe finden Informationen in Oberstufen- und Abiturverordnung (OAVO), Lernende der Fachoberschulen in der VOFOS.

Wie erhält mein Kind einen Nachteilsausgleich in Hessen?

Sie als Erziehungsberechtigte stellen einen formlosen Antrag bei der Klassenleitung und fügen, sofern vorhanden, Diagnosen/Gutachten bei. Bei besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen ist keine externe Diagnose nötig.
Die Lehrer können jedoch auch aus eigener Initiative einen Antrag stellen.
Beide Formen von Anträgen werden durch die Klassenkonferenz bearbeitet. In dieser wird festgestellt, ob und über welchen Zeitraum der Nachteilsausgleich gewährt wird und auch in welcher Form dieser greifen soll.
Egal, welche Entscheidung die Klassenkonferenz trifft, sollten Sie als Erziehungsberechtigte immer informiert werden. Bei Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung (siehe nächster Punkt) ist Ihre Zustimmung unbedingt erforderlich, da diese Form des Nachteilsausgleichs auf dem Zeugnis vermerkt wird.

Welche Formen des Nachteilsausgleichs gibt es?

In Hessen wird der Nachteilsausgleich in drei Stufen gegliedert, die aufeinander aufbauen. Die Schule ist angehalten, immer nur die „einfachsten“ Maßnahmen zu ergreifen, um mit dem Nachteilsausgleich nicht zu überkompensieren.

Es wird unterschieden in Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen

  • der Leistungserbringung,
  • der Leistungsfeststellung und
  • der Leistungsbewertung

#1 Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungserbringung (§ 7 Abs. 2 VOGSV)

Die Inhalte und Ziele der Aufgabenstellungen bleiben gleich, ebenso die fachliche Anforderung an das Kind. Lediglich die Art und Weise bzw. die äußeren Bedingungen, wie die Leistungen vom Kind erbracht werden, werden an die Bedürfnisse des Kindes angepasst.

Dies kann bedeuten, dass…

  • dem Kind mehr Zeit beim Bearbeiten von Kontrollen und Klassenarbeiten gewährt wird,
  • das Kind bei Kontrollen und Klassenarbeiten einen anderen Raum nutzen darf,
  • dem Kind fortwährend erlaubt wird, mit einer Tastatur zu schreiben (natürlich ohne Rechtschreibkorrektur),
  • das Kind keine Tafelabschriebe anfertigen muss, diese bspw. Fotografieren darf
  • u.ä.

#2 Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung (§ 7 Abs. 3 VOGSV)

Die Leistungsanforderungen bei Kontrollen oder Klassenarbeiten werden an die Bedürfnisse des Kindes angepasst – jedoch ohne die fachliche Anforderung zu verändern.
Dies kann bspw. umgesetzt werden durch…

  • veränderte Aufgabenstellungen
  • mündliche statt schriftlicher Klassenarbeiten (nur möglich, wenn die Rechtschreibleistung nicht Teil der Bewertung ist)

Maßnahmen, sowohl im Bereich der Leistungserbringung als auch im Bereich der Leistungsfeststellung, werden nicht auf dem Zeugnis, sondern lediglich im Förderplan des Kindes des vermerkt.

#3 Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung (§ 7 Abs. 4 VOGSV)

Maßnahmen dieser Kategorie sind besser bekannt unter dem Begriff „Notenschutz“ und machen deutlich, worum es geht: Ist ein Kind aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht in der Lage, bestimmte Leistungen zu erbringen, so sieht die Schule davon ab, diese unter den gleichen Gegebenheiten zu bewerten, wie sie dies bei anderen Kindern machen würde.
Möglichkeiten, diese Maßnahmen umzusetzen, sehen wie folgt aus:

  • Die Rechtschreibleistung wird nicht gewertet.
  • Die Rechtschreibleistung wird nur zum Teil gewertet.
  • Auch wenn die Rechtschreibung Teil der Bewertung ist, darf das Kind eine Arbeit mündlich ablegen.
  • Multiple-Choice-Fragen
  • Bereitstellen von Hilfsmitteln (bspw. Wörterbuch, Hundertertafel (nur in der GS), o.ä.)
  • Stärkere Gewichtung mündlicher Leistungen

Maßnahmen dieser Stufe werden durch eine Bemerkung auf dem Zeugnis erfasst.
Aber Achtung: Bei den zentralen Abschlussprüfungen werden keine Maßnahmen im Bereich der Leistungsbewertung gewährt

Was gilt in den anderen Bundesländern / Österreich?

Baden-Württemberg
Der Nachteilsausgleich bis zum Abi – Susanne Seyfried

Brandenburg
Beitrag von Tanja Schikofsky folgt bald

Niedersachsen
Nachteilsausgleich bei LRS und Rechenschwäche, was gilt in Niedersachsen von Sabine Landua

Österreich
Nachteilsausgleich und Notenschutz in Österreich – LernArt Ute Temel

Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung: Der schulische Umgang mit Lese- / Rechtschreibschwierigkeiten

Bundesministerium Bildung, Wissenschaft und Forschung: Der schulische Umgang mit Rechenschwierigkeiten

Quellen

  • Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV) vom 19. August 2011 Bürgerservice Hessenrecht 
  • Besondere Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen, Hessisches Kultusministerium
    Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen,  Handreichung zur Umsetzung des sechsten Teils der
    Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV) vom 19. August 2011, zuletzt geändert durch die Verordnung vom 29. April 2014 (ABl. S. 234)
  • Nachteilsausgleich in der Praxis“ Gemeinsam leben Hessen e.V. (geht auch auf weitere Beeinträchtigungen ein, wie bspw. Autismus, Hörbeeinträchtigungen usw.)
  • Eine Broschüre, die ich nur wärmstens empfehlen kann: „Der Nachteilsausgleich, Grundregelungen zur Umsetzung in Schule und Ausbildung in Hessen“ Gemeinsam leben Hessen e.V., 2021

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