Der Nachteilsausgleich in der Schule ist wichtig, um Schülern mit besonderen Bedürfnissen, wie Dyskalkulie (Rechenschwäche) und Legasthenie (Lese-Rechtschreibschwäche), die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Dennoch kursieren viele falsche Vorstellungen darüber, wie dieser Nachteilsausgleich funktioniert und wer Anspruch darauf hat.

Als Lerntherapeutin erlebe ich oft, wie diese Irrtümer Eltern und Lehrer verunsichern können und welche enormen Auswirkungen dies auf die emotionale Situation von Schülern hat.

Anhand konkreter Beispiele aus Dutzenden von Beratungen mit Eltern und Lehrkräften in Baden-Württemberg möchte ich gerne mit einigen Mythen aufräumen und Lösungen aufzeigen, damit Schüler mit einer LRS und Rechenschwäche innerschulisch die nötige Unterstützung bekommen.

Was regelt die Verwaltungsvorschrift „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf“ – BW

Die Verwaltungsvorschrift „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf und Behinderungen“ von 2008 regelt den Umgang mit Schülern mit Schwierigkeiten im Lesen oder Rechtschreiben und besonderen Schwierigkeiten in Mathematik. 

Folgende Aspekte sind von Bedeutung (siehe Förderung gestalten, Modul A Förderung an Schule, 2011, S.8):

  • Die Verwaltungsvorschrift präzisiert die Aufgaben der Schule
  • Sie legt Verantwortlichkeiten fest und zeigt klar auf, wer wann welche Schritte zu veranlassen hat.
  • Dokumentation: Die besondere Förderung wird nachvollziehbar dokumentiert
  • Wirksamkeit von Fördermaßnahmen: wird in regelmäßigen Abständen überprüft
  • Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs werden präzisiert, um Missverständnisse zu vermeiden

Gut informierte Eltern und Lehrkräfte sind für Schüler so wertvoll.

Leider sind die Informationen auf den Websiten der jeweiligen Schulämter sehr unterschiedlich. Ich habe mir mal die Zeit genommen und habe mir die Websiten von allen Schulämtern in Baden-Württemberg angeschaut. Von Arbeitshilfen, über Dokumentationsbögen und Ansprechpersonen gibt es auch Schulämter, die leider überhaupt keine Information zu LRS/ Rechenschwäche haben.

#1 Das kann doch jede Schule selbst entscheiden, oder?

Jeder Lehrer, jede Schule, jedes Schulamt interpretiert die Verwaltungsvorschrift anders, das ist erlebe ich immer wieder in vielen Gesprächen, Beratungen und Fortbildungen mit Lehrkräften.

Die Lehrkräfte bekommen oft die Informationen von den Schulleitungen. Gespräche mit Eltern oder auch mit Lerntherapeuten beginnen dann oft mit folgenden Worten „Ja, aber meine Schulleitung hat gesagt“. Leider fehlt der Schulleitung manchmal auch das Hintergrundwissen. Welche emotionalen Auswirkungen das für Schüler haben kann, wird auch im Mythos #4 sehr deutlich.

Ein Kommentar einer Lehrkraft aus Baden-Württemberg auf Facebook bringt es wunderbar auf den Punkt

Rückmeldung einer Lehrkraft
Mythen, die sich weitertragen und die Antwort einer Lehrkraft darauf

Die Schulen sind grundsätzlich zur Anwendung der Verwaltungsvorschrift und der dort vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen verpflichtet (siehe auch Tipp 4 des Landesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie).

Theoretisch müssen Eltern keinen Antrag auf einen Nachteilsausgleich stellen, aber in der Praxis geht die Initiative sehr oft von den Eltern aus.

Die Entscheidungen der Klassen- oder Jahrgangsstufenkonferenz hat bindende Wirkung für die Fachlehrer. Ein Nachteilsausgleich ist in allen Klassenstufen, auch in Abschlussklassen und Prüfungen möglich.
Im Ermessen der Klassenkonferenz liegt jedoch die konkrete Ausgestaltung der Maßnahmen. Es ist jedoch wichtig, „spezifische Nachteile der Schülerinnen und Schüler mit Einschränkungen, Benachteiligungen oder Behinderungen auszugleichen“ (Arbeitshilfe zur Verwaltungsvorschrift, Schulamt Rastatt, S.2) und deren Wirksamkeit regelmäßig zu überprüfen.

„Im Unterricht Heterogenität als Schatz anzunehmen und nicht nur als Belastung zu sehen, ist eine große Herausforderung in der täglichen Unterrichtsarbeit.“

(Modul A Förderung an Schulen, S.5) 

Aber in welchen Klassen gibt es überhaupt einen Nachteilsausgleich? Die Annahme, dass ein Nachteilsausgleich ab einer bestimmten Klassenstufe aufhören würde, ist überall präsent.

#2 Hört der Nachteilsausgleich nach der Grundschule auf

Diesen Mythos gibt es in allen Formen und Varianten, folgende Versionen von Lehrkräften halten sich hartnäckig:

  • ein Nachteilsausgleich ist sowieso unfair, ich gewähre ihn grundsätzlich nicht
  • nach der Grundschule hört der Nachteilsausgleich auf
  • Am Elternabend: nach Klasse 6 gibt es keinen Nachteilsausgleich mehr. Auf die Nachfrage, warum, kam nur die Gegenfrage, aus welchem Grund sollte er denn länger gewährt werden?
  • 2 Jahre vor den Abschlussprüfungen gewähren wir keinen Nachteilsausgleich mehr, der Schüler muss sich daran schon mal gewöhnen, ohne ihn klar zu kommen (siehe Mythos #3)
  • ein Nachteilsausgleich wird nur bewilligt, wenn ein medizinisches Gutachten vom Kinder- und Jugendpsychiater oder SPZ vorliegt, solange können wir hier in der Schule leider nichts tun (zum Thema medizinische Diagnostik siehe Mythos #4),

Fakt ist aber, die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs sind in allen Klassenstufen und auch in den Abschlussprüfungen anwendbar.

#3 Alles Gewöhnungssache? Ab jetzt kein Nachteilsausgleich mehr

Folgende Frage hat eine Mutter auf Facebook gestellt.

Diskussion in einer Facebook-Gruppe. Muss man sich einfach nur dran gewöhnen?

Genau diese Frage habe ich in einem Eltern-Coaching ebenfalls diskutiert. Am Elternabend seines Kindes in Klasse 8 kam die Info, dass es doch sinnvoll wäre, jetzt schon auf den Nachteilsausgleich zu verzichten.

2 Dinge, die hier von Bedeutung sind.

  • Die Abschlussprüfung ist in erst in knapp 2 Jahren. Warum soll der Schüler, der in diesem Fall seit Klasse 3 einen Nachteilsausgleich hatte, auf einmal keinen mehr bekommen. Er hat diesen ja nicht ohne Grund und es hilft ihm, in Mathematik besser zurechtzukommen
  • Und noch ein Irrtum: Natürlich ist ein Nachteilsausgleich auch in der Abschlussprüfung möglich. Was wegfällt ist (trifft nur auf eine LRS zu) ist der Notenschutz (die zurückhaltende Gewichtung der Rechtschreibung).

Aber jetzt schon auf einen Nachteilsausgleich zu verzichten, ist wie plötzlich jemandem die Brille wegzunehmen. Schlechtere Noten in Kauf zu nehmen, die dann auf einem Zeugnis stehen, mit welchem der Schüler sich ggf. auf einen Ausbildungsplatz bewirbt, macht überhaupt keinen Sinn.

#4 Braucht es eine medizinische Diagnostik?

Diese Aussage von Lehrkräften erreichte mich mehrfach die letzten Wochen. Im Vergleich zu den letzten Jahren häufen sich diese Aussagen. Die Schule ist mit dem Hinweis, bitte wenden Sie sich an einen KJP erstmal aus der Verantwortung raus. Dem Schüler allerdings wird durch eine lange Wartezeit bei Kinder- und Jugendpsychiatern oder im SPZ monatelang nicht geholfen.

Dies kann dazu führen, dass er emotional unter seinen Lernschierigkeiten leidet und sich auch in anderen Fächern immer weniger zutraut. Dabei kann ein Nachteilsausgleich (mit zur Verfügung gestellten Hilfsmitteln, mehr Zeit und angepassten Hausaufgaben) die Situation enorm entlasten.

Werfen wir einen Blick in die Verwaltungsvorschrift. Unter dem Punkt Allgemeine Ziele und Grundsätze ist dort folgendes geregelt:

„Eine fortlaufende Beobachtung der Lernentwicklung, kontinuierliche Lernstandsdiagnosen, Elternberatung, ggf. die Erstellung von Förderplänen und die Durchführung von Fördermaßnahmen gehören zu den Aufgaben der Schule unter verantwortlicher Koordination der Schulleiterin oder des Schulleiters“.

Es ist ganz klar geregelt, dass eine medizinische Diagnostik nicht nötig ist. „Ein medizinisches Gutachten ist nicht nötig“ steht auch auf der Seite vom Schulamt Lörrach. Außerdem befinden sich hier weitere Informationen zur Diagnostik beispielhaft für den Bereich Rechenschwäche:

Schulamt Lörrach Feststellung einer Rechenschwäche

Es sehr überraschendes Beispiel einer Grundschule verlangt sogar eine Diagnostik bei ganz konkreten Anlaufstellen, 80 km vom Wohnort entfernt. Die Schule fordert die Eltern auf, bei einem SPZ oder niedergelassenend Kinder-und Jugendpsychiater eine Diagnostik durchzuführen, damit ein Nachteilsausgleich gewährt werden kann. Aus einer E-Mail an die Eltern:

„Nach Rücksprache mit meiner Schulleitung Frau …. brauchen wir eine Diagnose von einer der beiden im Anhang gennanten Stellen. Einen schnelleren Termin gibt es bei der oberen Adresse. Vielleicht könnten Sie Kontakt aufnehmen.“

#5 Nachteilsausgleich nur bei Klassenarbeiten, bei Tests nicht?

Eines der Missverständnisse, die weit verbreitet sind, aber nicht korrekt sind.  Das bisschen Einmaleins geht auch ohne Nachteilausgleich, dachte die Lehrkraft und entschied kurzfristig, den Nachteilsausgleich mal wegzulassen (mehr Zeit, Hilfsmaterial) und es ohne „auszuprobieren“. In Klasse 2 bekam dieser Schüler für Tests und Klassenarbeiten mehr Zeit. Anfang Klasse 3 ging das auf einmal nicht mehr. Die Lehrerin erklärte dem Jungen „Es macht überhaupt keinen Sinn, dir hier einen Nachteilsausgleich zu gewähren“. Der Junge war geschockt und litt emotional unter der Aussage seiner Lehrkraft.

#6 Mündlich ist Silber, schriftlich ist Gold

Ein häufiges Missverständnis ist, dass mündliche Absprachen ausreichen, um den Nachteilsausgleich umzusetzen. Tatsächlich ist es wichtig, den Nachteilsausgleich schriftlich festzuhalten. Dies dient der Klarheit und Transparenz für alle Beteiligten.

In einer Klassenkonferenz unter Vorsitz der Schulleitung wird geprüft, welche Form der Unterstützung der Schüler benötigt.  Die Klassenkonferenz beschließt den Nachteilsausgleich, ihre Beschlüsse sind für jede Lehrkraft bindend. Schriftliche Vereinbarungen helfen, sicherzustellen, dass der Ausgleich konsequent umgesetzt wird.

#7 Steht der Nachteilsausgleich auf dem Zeugnis?

Ein Nachteilsausgleich wird grundsätzlich nicht im Zeugnis vermerkt.

Aber: Die zurückhaltende Gewichtung der Lese- und Rechtschreibleistungen darf im Zeugnis vermerkt werden (siehe auch Abschnitt 2.3.2 der Verwaltungsvorschrift).

Tipps für Eltern: Überprüft unbedingt die Bemerkungen in der Halbjahresinformation bzw. im Zeugnis am Schuljahresende.

Tipps für Lehrkräfte: Oft höre im Gespräch mit Lehrkräften, dass der Nachteilausgleich im Zeugnis notiert wurde, weil das Zeugnisprogramm dafür einen extra Baustein vorsieht. Tauscht euch im Lehrerkollegium aus und legt  schon bei der Besprechung der Maßnahmen fest, welcher Passus (z.B. bei der zurückhaltenden Gewichtung der Rechtschreibung) im Zeugnis aufgenommen wird.

Anlaufstellen für Lehrkräfte/Eltern in Baden-Württemberg

Anlaufstellen für Eltern und Lehrkräfte

  • Beratungslehrer
  • schulpsychologische Beratungsstelle
  • LRS-Berater (teilweise gibt es diese auch für Rechenschwäche, je nach Schulamt)
  • Landesverband/Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie

Nur für Lehrkräfte: ASKO (Arbeitsstelle Kooperation)

Jetzt bin ich gespannt, was sind deine Erfahrungen in Bezug auf die Gewährung von Nachteilsausgleichen? Kommentiere doch gerne unter meinem Blogbeitrag.

Quellen:

 

 

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