Wie Maria trotz Matheschwierigkeiten als Kind, jetzt als Erwachsene mit Dyskalkulie erfolgreich ist
Haben Erwachsene überhaupt eine Dyskalkulie? Oder haben das nur Kinder und es verwächst sich von alleine? Eine Mutmacher-Geschichte von Maria, die als Kind große Schwierigkeiten in Mathe hatte und heute mit viel Humor darüber erzählt.
Im Interview gibt Maria einen Einblick in ihre turbulente Schulzeit und wie sie jetzt gelassen und mit viel Humor mit ihren ganz persönlichen mathematischen Herausforderungen umgeht.
Maria ist selbständige Heilpraktikerin für Psychotherapie und leiborientierte Kunsttherapeutin. Wir haben uns bei einer Online Fortbildung im Herbst 2020 kennengelernt und relativ bald die Idee gehabt, ihren Weg und ihre Erfahrungen zu teilen, um zu zeigen, dass man auch mit großen Matheschwierigkeiten in der Schule später erfolgreich sein kann. Meine erste Mutmacher Geschichte und wie Emil doch noch seinen Hauptschulabschluss geschafft hat, obwohl die Lehrer nicht mehr an ihn geglaubt haben, findest du hier
Mutmacher Geschichte
Aber jetzt gibt uns Maria einen Einblick in ihr Leben.
Susanne: Maria, erzähl mir doch bitte ein wenig von deiner Schulzeit, wie war diese mit einer Rechenschwäche
Maria: Ich bin 1967 eingeschult worden und war schon in der 1. Klasse die langsamste im Rechnen. Immer wenn wir Aufgaben in Stillarbeit zu erledigen hatten, habe ich mich durch die Rechenpäckchen gequält und war froh, wenn ich am Ende der Arbeitszeit 2 Päckchen à 3 Aufgaben gelöst hatte. Mein Frust war natürlich groß, wenn ich feststellen musste, dass meine Mitschülerinnen (es war eine reine Mädchenklasse) alle schon eine ganze Reihe à 5 oder 6 Päckchen gelöst hatten. Einmal sah ich meine große Stunde gekommen. Denn die Aufgaben in einem Päckchen lauteten so:
3+4=
4+3= usw.
Da hatte selbst ich verstanden, dass das Ergebnis immer gleich war. Überglücklich meldete ich nach Ende der Arbeitszeit, ich hätte eine komplette Reihe fertig bekommen. Meine Mitschülerinnen hatten allerdings die komplette Seite geschafft. Mein Frust saß echt tief. Immer waren alle anderen schneller. Auch in den folgenden Grundschuljahren war Rechnen mein absoluter Schwachpunkt. Was ich allerdings ganz gut hinbekommen habe, waren Textaufgaben. Da konnte ich mir etwas drunter vorstellen. Die reinen Zahlen waren für mich völlig nichtssagend bzw. ich hab sie immer als „flüchtig“ empfunden. Was ich damit meine ist, ich konnte sie nicht in meinem Kopf festhalten.
Susanne: Wie waren deine Lehrer? Gibt es etwas, an was du dich besonders erinnerst?
Maria: Natürlich gab es den einen oder anderen Spruch und natürlich prägte das auch meine Schulzeit. Im Gymnasium hat dann mal ein Lehrer über mich gesagt, ich habe ein gestörtes Verhältnis zu Zahlen. Damit glaube ich, hat er den Nagel auf den Kopf getroffen.
Ich war halt diejenige, die in allen sprachlichen und musischen Fächern recht gut war und in Mathe erschreckend schlecht. Das war’s. Ich bin auch nicht sicher, ob ich eine echte Dyskalkulie habe, denn damals gab es noch keine Möglichkeit es zu diagnostizieren. Ich tue mich halt mit Zahlen wirklich schwer.
Eine Bemerkung eines Lehrers hatte ich allerdings vergessen, aber meine Mutter hatte sie beim Stöbern in alten Unterlagen wiederentdeckt. Meine damaliger Musiklehrer sagte Folgendes zu mir:
„Na, Maria, gehörst du in Mathe auch zu den Doofen? Du bist mir voll sympathisch!
Susanne: Welche Strategien hast du entwickelt, um im Unterricht zu „überleben“?
Maria: Mathe war mein absolutes Stress-Fach.
In der 8. Klasse hatte ich dann eine 5 auf dem Zeugnis und meine Mutter hat flugs Nachhilfe organisiert. Das hat durchaus etwas geholfen. Aber meine Nachhilfelehrerin hat mich damit gequält, dass ich alle Zwischenschritte etc. im Kopf rechnen musste. Das fiel und fällt mir halt wirklich schwer. Das ist auch der Grund, weshalb ich niemals als Studentin hätte kellnern können. Das Abrechnen mit den Gästen hätte mich in Panik versetzt. Was das Kopfrechnen angeht, hatte ich mir mittlerweile eine eigene Strategie zurechtgelegt: Ich habe mir die Zahlen immer wie Räume vorgestellt, bzw. wie einzelne Elemente, die sich in verschiedenen Räumen aufhalten. Wenn ich jetzt zum Beispiel im Kopf 35 und 58 zusammenrechnen muss, dann füge ich dem 30er-Raum zunächst 5 hinzu und bin im 40er-Raum. Diese 5 nehme ich von den 58 weg, bleibt 40 + 53, also jetzt 10 auf den 40er-Raum, bleiben 50+43 = 93. (ich hab das jetzt nochmal auf dem Taschenrechner kontrolliert…, stimmt). Dadurch brauche ich natürlich zum Kopfrechnen unglaublich lang. Bei Minus-Aufgaben wird’s noch schwieriger, Multiplizieren oder gar Dividieren im Kopf kann ich noch schlechter. (Wozu gibt es Taschenrechner???).
In Geometrie war ich übrigens gut – da hatte ich was zum Anschauen. Ähnlich wie bei den Textaufgaben. Mir fehlte bei Mathe immer der Bezug zur Realität. Wozu um Himmels Willen braucht man die Binomischen Formeln? Aus meiner Sicht: nur, um Kinder zu quälen. (Vorsicht: Satire)
Susanne: Wie hat das Thema Rechenschwäche deine Berufswahl beeinflusst?
Maria: Erstmal die gute Nachricht, ich konnte Mathe tatsächlich im Abi abwählen. In der 11. Klasse war ich ein Jahr in den USA und als ich in 12 wiederkam, hatten wir gerade das Thema Vektorrechnung. Ich hatte natürlich nichts verstanden. Damals gab es noch Quartalsnoten und mein Lehrer war sehr verständnisvoll und hat mir gesagt,
Ich gebe dir besser keine Note in Mathe, denn sonst wäre es eine 6.
So hatte ich Glück und kam einmal ohne Bewertung davon. Danach hatte ich immer irgendwie eine 4 und konnte Mitte der 13. Klasse Mathe ganz abwählen. Mein Abi in der Tasche studierte ich Geschichte und Sozialwissenschaften. Meine Mutter hätte sich etwas Kaufmännisches gewünscht, aber das wäre für mich mit meinen Matheschwierigkeiten absolut nichts gewesen.
Natürlich hatte ich im Studium auch Fächer wie Statistik, aber irgendwie kam ich durch. Ich habe mich immer versucht auf meine Stärken zu fokussieren und mich als Erwachsene von der Dyskalkulie nicht abhalten zu lassen, meine Ziele zu verfolgen.
Susanne: Gibt es Dinge, die dir bei deiner Arbeit schwerfallen, weil es da um Mathe geht? Wie ist es mit der Uhr?
Maria (ganz schnell und lacht): Natürlich kann ich die Uhr lesen. Aber ich zähle immer heimlich die 5er Schritte ab, wenn ich wissen möchte, wann eine bestimmte Zeit abgelaufen ist.
Außerdem mag ich keine Division. Wenn ich Seminare halte und meine Teilnehmer in kleinere Gruppen aufteilen möchte, dann zähle ich sie einfach ab und vermeide damit mühsame Divisionsaufgaben ( z.B. 15:3). Manchmal gebe ich aber auch einfach die Verantwortung ab und bitte die Teilnehmer sich selbst zu organisieren und kleinere Gruppen zu bilden. Das löse ich dann so geschickt, dass ich mich ganz auf mein Seminar konzentrieren kann und den Teilnehmern das Gefühl gebe, mehr Mitspracherecht bei der Einteilung zu haben.
Susanne: Was verbindest du heute mit Mathe?
Maria: Ich habe als Erwachsene mal einen Kurs begonnen, in dem Mathe erklärt wurde, ganz anschaulich, wirklich auch sehr motivierend. Ich wollte sehen, ob ich heute als Erwachsene einen anderen Zugang dazu finden könnte. Dieser Kurs (ich glaube, es war ein Hörbuch), war wirklich toll gemacht. Aber nach etwa 2 Kapiteln musste ich aufgeben. Ich konnte überhaupt nicht mehr folgen. Ich bin da heute sehr gelassen. Klar, ich würde gerne verstehen, wie Mathe funktioniert. Aber ich würde auch gerne singen wie eine Operndiva – und auch das werde ich nie erreichen. Meine Rechenfähigkeiten – mit Hilfe von Taschenrechner und ab und zu nochmal bei YouTube nachschauen – reichen, um meine eigene Buchhaltung hinzubekommen. Damit bin ich zufrieden. Meine jüngste Tochter ist übrigens auch sehr schlecht in Mathe. Ich habe versucht, das nie zum großen Thema werden zu lassen. Sie hatte am Schluss eine Nachhilfelehrerin, die den Schlüssel zu ihrem Problem gefunden hat und ihr alles sehr gut erklären konnte.
Susanne: Was rätst du anderen (Erwachsenen) mit einer Dyskalkulie?
Maria: Finde heraus, wie du einen Zugang zur Zahlenwelt bekommen kannst. Wahrscheinlich braucht man dabei Hilfe. Bei mir klappte das ja über Geschichten, Bilder etc. Dadurch wurde als Erwachsene mit einer Dyskalkulie nicht zum Mathe-Könner (ich wurde ja nie diagnostiziert, aber vermutlich wäre das heute anders), aber ich konnte mir dadurch einiges so erschließen, dass ich letztlich irgendwie auch in diesen Fächern durch die Schule kam. Zur Not, so lange nach der richtigen Unterstützung suchen, bis jemand die spezifischen Schwierigkeiten versteht. Vielleicht kann man heute auch eher mal mit LehrerInnen reden und gemeinsam nach Hilfsmöglichkeiten suchen. Da sind natürlich auch die Eltern gefragt. Denen rate ich, nicht zu verzagen. Ja, Mathe ist ein wichtiges Fach. Aber sicher hat das Kind, das es mit Zahlen schwer hat, andere Talente. Ich finde es ganz wichtig, darauf auch immer wieder den Blick zu werfen und das Kind nicht nur als Träger eines „Defizits“ zu sehen. Es Erwachsene mit Dyskalkulie ist es wichtig mit viel Humor und einer Portion Selbstbewusstsein damit umzugehen.
Vielen lieben Dank Maria!
Vielen lieben Dank Maria für das offene und wirklich herzliche Interview. Das Thema Dyskalkulie als Erwachsene muss kein Tabuthema sein, sprechen wir offen an, dass man auch noch nach der Schulzeit Schwierigkeiten haben kann und trotzdem glücklich und erfolgreich sein kann. Danke für diese Mutmacher Geschichte, Maria.
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