Ich werde ganz oft gefragt, wie startest du deine Lerntherapie, was ist eine Anamnese und wie können sich Eltern den Ablauf während der ersten Therapiestunden genau vorstellen? Neben den organisatorischen Dingen, wie Vertrag, Hygienekonzept und Datenschutz ist eine Anamnese sehr wichtig.

Die Anamnese ist ein wichtiges Puzzleteil in der Lerntherapie. Sie bildet die Grundlage dafür, die individuellen Stärken, Bedürfnisse und Herausforderungen eines Kindes zu verstehen und eine gezielte Förderung zu ermöglichen.

Was bedeutet Anamnese?

Doch woher stammt eigentlich der Begriff „Anamnese“? Der Begriff hat seinen Ursprung im Griechischen und bedeutet übersetzt „Erinnerung“ oder „Erinnerung wieder wachrufen“. In der Medizin und Therapie beschreibt die Anamnese das systematische Sammeln von Informationen, um ein möglichst umfassendes Bild von der Ausgangssituation zu erhalten. In der Lerntherapie geht es dabei nicht nur um schulische Leistungen, sondern auch um emotionale, soziale und familiäre Faktoren, die das Lernen beeinflussen.

Du erfährst hier, warum die Anamnese so wichtig ist und wie sie zur optimalen Unterstützung der Kinder in der Lerntherapie beitragen kann.

Methoden zur Informationsgewinnung

Inhalte der Anamnese in der Lerntherapie

Die Anamnese ist ein dynamischer Prozess, der während der gesamten Lerntherapie eine zentrale Rolle spielt. Zu Beginn ist es wichtig, umfassende Informationen zu sammeln, um die individuellen Bedürfnisse, Stärken und Herausforderungen eines Schülers zu verstehen. Eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens ist essenziell, um relevante Erkenntnisse zu gewinnen. Neue Beobachtungen werden kontinuierlich dokumentiert, und Förderziele werden regelmäßig an die sich verändernden Bedürfnisse des Kindes angepasst.

Durch diese fortlaufende Evaluation bleibt die Unterstützung flexibel und individuell. So wird sichergestellt, dass die Förderung stets optimal auf die Entwicklung des Kindes abgestimmt ist und nachhaltige Erfolge erzielt werden.

Inhalte der Anamnese:

  • Lern- und Arbeitsverhalten:
    • Konzentrationsfähigkeit, Motivation, Selbstständigkeit
    • Umgang mit Fehlern und Herausforderungen
  • Psychosoziale Faktoren:
    • Familiäre Situation, soziale Beziehungen, emotionale Situation
    • Unterstützung durch Eltern und Lehrkräfte
  • Bisherige Maßnahmen:
    • Förderprogramme, Therapien oder Nachhilfe
    • Erfahrungen und Rückmeldungen aus Schule und Alltag
  • Stand der Lernentwicklung:
    • Schriftsprach- oder Mathematikkompetenz (analysiert durch Tests und Fehleranalysen)
    • Informelle Beobachtungen und standardisierte Diagnoseverfahren
  • Externe Einflüsse:
    • Ergebnisse medizinischer oder neuropsychologischer Untersuchungen
    • Kooperation mit externen Einrichtungen

Methoden zur Informationsgewinnung

1. Strukturierte Interviews

Interviews mit Schülern, Eltern und Lehrkräften bieten wertvolle Einblicke in die Sichtweisen und Erfahrungen aller Beteiligten. Sie ermöglichen, neben objektiven Informationen, auch die subjektive Wahrnehmung zu erfassen.

2. Beobachtungen

Beobachtungen während der Förderung oder im Unterricht bringen einen Einblick in Verhaltensmuster und Herausforderungen. Sie sind besonders hilfreich, um Dinge besser zu verstehen, die in Fragebögen oder Gesprächen nicht immer sichtbar werden.

3. Fragebögen

Fragebögen sind ein flexibles Werkzeug, um systematisch Daten zu erfassen. Hierbei kommen sowohl standardisierte als auch selbst entwickelte Instrumente zum Einsatz:

BASE-Fragebögen (PaePsy-Verlag)
Diese umfassenden Fragebögen für Eltern, Schüler und Lehrkräfte decken viele relevante Bereiche ab. Aufgrund ihrer Detailtiefe sind sie eine wertvolle Grundlage. Ich nutze jedoch eine eigene gekürzte und angepasste Version, um spezifische Aspekte hervorzuheben, die mir in der Lerntherapie besonders wichtig sind.

Fragebögen zur Lernmotivation
Neben dem standardisierten FLM 3–6 R (Fragebogen zur Leistungsmotivation für Schülerinnen und Schüler der 3. bis 6. Klasse) setze ich auch einen selbst entwickelten Lesemotivationsfragebogen ein. Dieser ermöglicht es, die Einstellung der Schüler zum Lesen sowie motivierende oder hindernde Faktoren zu identifizieren.

Mathematikangst-Fragebögen
Für den Bereich Mathematikangst eignet sich beispielsweise der Fragebogen für Rechenangst (FRA) (kostenloser Download auf Researchgate.

Dabei können diese Fragebögen auch qualitativ ausgewertet werden, um die Denkweisen und Gefühle der Schüler in Bezug auf Mathematik besser zu verstehen, ohne sich allein auf Prozentränge zu fokussieren.

4. Satzergänzungstests

Der Satzergänzungstest (SELBST – Therapieprogramm für Jugendliche mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen) ermöglicht es, unbewusste Einstellungen und Gefühle der Schüler offenzulegen. Ich habe diesen Test an die Bedürfnisse meiner Schüler angepasst, um eine individuellere Diagnostik zu gewährleisten.

5. Skalierungsfragen mit Bewegungsaktivitäten

Ein weiterer wertvoller Ansatz ist die Arbeit mit Skalierungsfragen, die Schüler aktiv einbeziehen. Beispielsweise stelle ich Fragen wie: „Wie viel Spaß macht dir Lesen in der Schule?“. Die Schüler positionieren sich dann auf einer gedachten Linie von 1 (gar kein Spaß) bis 10 (sehr viel Spaß). Diese Methode schafft eine spielerische Einschätzung der Schülerperspektive.

Skalierungsfragen aus der Kreisel e.V. Diagnostik, grafische Umsetzung von Lena Bilger

Meine Empfehlung zur Anamnese: Soviel wie nötig, so wenig wie möglich

Individuelle Stärken entdecken – warum Anamnese und Beobachtung der Schlüssel sind

Eine gründliche Anamnese und fortlaufende Beobachtung sind essenziell, um Schüler optimal zu begleiten. Folgende zwei Beispiele zeigen, wie kleine Entdeckungen Großes bewirken können:

Ein Schüler, der Lesen überhaupt nicht möchte, aber inzwischen große Fortschritte gemacht hatte, zeigte draußen plötzlich Interesse an Baustellen, Schildern und Fahrzeugen. Indem wir diese Leidenschaft nutzten, wurde er motiviert, ganz neue Texte zu lesen – sogar freiwillig! Ohne intensive Gespräche mit ihm und einen kurz zuvor entwickelten Lesemotivationsfragebogen hätte ich das nie entdeckt.

Lesemotivation leicht gemacht

Ein anderer Schüler kämpfte mit Mathematik und Konzentrationsproblemen. Er war oft unruhig und wenig motiviert – bis wir die Stunde nach hinten verlegten. Ich hatte erst kurz zuvor einige Fragen in meinem Satzergänzungstest beantworten lassen, bis mir auf einmal sehr deutlich bewusst wurde, er kann am besten lernen, wenn er sich vorher auf dem Fahrrad ausgepowert hat. 

Beide Beispiele zeigen: Nicht nur die Anamnese am Anfang, sondern auch der laufende Austausch mit Schülern und Eltern ist entscheidend, um individuelle Lösungen zu finden und Erfolgserlebnisse zu schaffen.

Die Anamnese schafft so eine gute Grundlage für eine Förderung, die sich flexibel an die individuellen Bedürfnisse des Kindes anpasst und stets auf die aktuelle Situation eingeht. Sie ist wichtig, um gezielte Fortschritte zu ermöglichen und das Kind auf seinem Weg bestmöglich zu unterstützen.

Was sind deine Erfahrungen mit der Anamnese in der Lerntherapie, egal, ob als Eltern oder Lerntherapeut? Kommentiere doch gerne unter dem Blogbeitrag.

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